Verfahren

Ich sitze auf dem Fahrrad und in meinen Kopfhörern unterbricht eine gestelzte Frauenstimme David Bowie und Freddy Mercury. „In – 300 Metern – rechts auf – Grindelallee – abbiegen.“ Dum dum dum dumdumdum dum.

Nach langer Zeit habe ich mich endlich überwinden können, mal wieder das Rad zu nehmen. Es ist nur eines der städtischen Leihräder und ich habe das Gefühl ich fahre auf einer Gurke. Null Beschleunigung und wenn man drauf tritt quietscht es. Und zwar mit jedem Tritt. Es ist weniger ein Quietschen als ein wahnsinnig hohes Piepen. Ich versuche während der Fahrt einen Blick auf die Bremsen hinten und das Kettenlager zu werfen und fahre eine riskante Welle auf den Gehweg. Ist da vielleicht ein Vogel eingeklemmt? Denkt das Rad, dass es geklaut wird, und es ist eine Alarmanlage?

It’s the terror of knowing what the world is about.

„Für – eins – komma – drei – Kilometer – auf – Barmbeker Straße – bleiben.“

Ich fahre über Kopfsteinpflaster. Irgendwo bin ich falsch abgebogen und jetzt leitet Google mich durch irgendwelche mysteriösen Seitenstraßen. Ich ruckle an einem Polizeihäuschen, Schranken und Betonpollern vorbei. Als ich zur Schule ging bin ich eigentlich immer Rad gefahren. Einmal bin ich so durchnässt nach Hause gekommen und die Wassertropfen benetzten so malerisch mein Gesicht, dass meine Mutter lachen musste als sie mich sah und anschließend ein Foto machte. Ein anderes Mal fragte mich in der ersten Stunde meine Mathelehrerin mitleidig, ob ich mich nicht an die Heizung setzen wolle – es hatte geschneit auf der Radfahrt zur Schule und meine Jeans war total durchnässt.

Vollbremsung. Nichts ist schlimmer als winzige Chihuahuas in pinken Felljäckchen mitten im Berufsverkehr. Es wird der Zeitpunkt kommen, an dem ich einen tot fahre, indem ich mit dem Pedal an seinem Plüschkragen hängen bleibe und – „In – fünf hundert – Metern – rechts – auf – Osterbekstraße – abbiegen.“… Naja, ist ja auch egal. Immerhin scheint die Sonne. Aber irgendwie entsteht gerade die paradoxe Situation, dass meine Hände und Füße erfroren sind und ich halsabwärts trotzdem schwitze. Ich merke auch, wie es am Rücken unter meinem Rucksack immer klammer wird.

Ich fahre schnell und werfe rechts einen flüchtigen Blick in meine alte Straße. Ich frage mich, ob in unserer ehemaligen Wohnung inzwischen jemand wohnt. Immerhin scheint kein Baugerüst mehr vor dem Haus zu stehen, vielleicht gibt es ja nach mehr als einem Jahr neue Mieter. Moment, stand da ein Kran mitten auf der Straße?

Can’t we give ourselves one more chance? Why can’t we give love that one more — „Links auf – Mittelweg – dann rechts auf – Max-Brauer-Allee.“

Das kann doch nicht richtig sein. Es hieß, dass man für die Strecke 35 Minuten braucht. Ich bin jetzt schon eine halbe Stunde unterwegs und nicht annähernd am Ziel. Ich halte an, ziehe die Handschuhe aus, hole mein Handy aus der Tasche, entsprerre es, wische neun Benachrichtigungen weg und schaue mir nochmal die Route an. Fuck, irgendwie ist die App schon wieder falsch eingestellt irgendwo und der Touchscreen zickt in der Kälte auch rum. Die Ampel vor mir wird grün, dann rot. Ich stecke mein Handy wieder ein und ziehe die Handschuhe an. „Geradeaus – auf – Brandstwiete.“

Rechts überholt mich ein Fahrradkurier und ich trete meine Gurke. Rad fahren macht heute keinen Spaß.

This is our last dance. This is ourselves under pressure.