Ich dachte schon kurz, ich hätte wieder eine Schreibblockade, und dann lud Marie Meimberg ein neues Bild bei Instagram hoch. Sie ist eine meiner persönlichen Social-Media-Welt Ikonen. Alles, was sie bisher angefasst oder produziert oder geschrieben oder in sonst einer Weise meines Wissens nach beeinflusst hat, fand ich großartig. Ihr Engagement in der Kreation einer kleinen YouTube-Utopie fand ich bewundernswert, und letztlich ihren Ausstieg aus der Blase konsequent und nachvollziehbar (auch wenn ich mich selbst mitten in dieser Blase befinde).
Marie hat schon mehrmals kleine Experimente gemacht, um verschiedene Formate und Algorithmen auf Social Media zu verstehen. Ihr neustes Experiment findet auf Instagram statt, sie hat es #30TageFresse genannt. Es geht darum, dass ExpertInnen sagen, man könne derzeit auf Instagram schnell erfolgreich werden, wenn man jeden Tag zu bestimmten Uhrzeiten ein Selfie oder Bild von sich selbst poste. Marie erklärt, dass sie Fotos von sich selbst zu machen langweilig findet und sich dabei albern vorkommt. Sie berichtet dementsprechend unter ihren Posts nicht nur von der Entwicklung ihrer Abo-Zahl, sondern auch, wie es ihr beim Fotomachen ging, ob sich an diesem initialen Gefühl etwas ändert, und ob es Selfies oder Selbstporträts von KünstlerInnen oder InfluencerInnen gibt, die inspirieren. Dabei entwickelten unter allen Posts tolle, interessante und reflektierende Diskussionen mit ihrer Community.
Das Experiment ist vorbei, die ExpertInnen-Prognose des rasanten Abo-Wachstums hat sich nicht erfüllt, aber Marie schreibt, sie hat ihre „Fresse“ als Leinwand und Stilmittel entdeckt, für großartige Fotos und tiefsinnige Begleittexte. Und da muss ich sagen: hier ist eine Küstlerin mit Selbstporträts, die mich inspiriert – sie ist auf ihrer Suche nach solchen Personen selbst zu einer geworden, jedenfalls für mich.
Ich habe mich im letzten Jahr auch viel mit mir beschäftigt, nicht nur innerlich sondern auch äußerlich. Ich war beim Frisör. Dann war ich beim Tättowierer, dann wieder beim Frisör. Dann beim Optiker. Dann wieder beim Frisör. So ungefähr der Ablauf, und nun habe ich ein Tattoo (ich weiß, dass ich oft davon rede, aber ich bin immer noch echt begeistert), die erste neue Brille seit 3 Jahren, und bin so blond wie das letzte Mal vor mehr als 20 Jahren. Und: Ich fühle mich so sehr wie ich selbst wie glaube ich noch niemals vorher.
Nicht alle waren über meine optischen Veränderungen so begeistert wie ich. Zu meinem Tattoo und dessen Bedeutung für mich gab es kritische Nachfragen und Bemerkungen. Zu meiner Brille zögerliche Reaktionen, die mir verrieten, dass mein Gegenüber sicher ein anderes Modell ausgesucht hätte. Zu meinen Haaren verzweifelte Aufschreie aus meiner Familie (mein Bruder ist nämlich ebenfalls kürzlich unter die Blonden gegangen), die sich fragt, was denn mit den Kindern verkehrt ist. Und, wie man auf Englisch so schön sagt: I don’t give a rat’s ass.
Wie ich zu Beginn von Marie Meimbergs Experiment dort kommentierte, mache ich eigentlich schon immer total gerne Bilder von mir. Damals mit der Digitalkamera meiner Mutter, irgendwann mit der Smartphone-Frontkamera. Im Gegensatz zu Marie finde ich mich als Bildmotiv irgendwie interessant. Na klar, hab ich mich auch schon gefragt wie normal das ist, sich gerne selbst zu fotografieren und dann Spaß daran zu haben, diese Bilder dann nachzubearbeiten. Eine kleine narzisstische Ader möchte ich mir da nicht absprechen, ebenso wie ich nicht leugnen möchte, dass ich das ganze für die Bestätigung von Außen tue – schließlich lade ich einen Teil dieser Selfies schon seit MySpace im Internet hoch.
Dennoch bekomme ich den Eindruck, da dreht sich etwas, und das auch sicherlich dank der Inspiration von Marie. Die hat nämlich ganz und gar nicht die klassischen Instagram-Influencer-Fotos hochgeladen, sondern das worauf die richtig Bock hatte, und dabei sind großartige, kunstvolle Fotografien entstanden. Denn, das hat Marie auch erklärt, ihr ist dieses Influencer-Klimbim sehr suspekt (um es mal nett auszudrücken), und sie versteht sich vor allem als Künstlerin. Content-Künstlerin, wie sie so schön in ihrer Instagram-Bio schreibt.
Während ihres Projektes hat sie sich folgerichtig auch mit der Kunst und mit Bildnissen anderer KünstlerInnen auseinander gesetzt, darunter Kusama Yayoi und Irving Penn. Und das fand ich so richtig genial, weil es mich an eine Verbindung erinnerte, an die ich lange nicht mehr gedacht hatte: Nämlich die des Selfies und des klassischen Selbstporträts, ob nun fotografiert oder gemalt.

An der Uni Hamburg beschäftigten wir uns in mehreren Seminaren mit Künstlerselbstporträts. Ich hielt ein Referat über ein ausdrucksvolles Gemälde von Delacroix. Wir lernten, wie verschiedene Künstler durch die Art und Weise, wie sich sich selbst darstellten, ein öffentliches Bild von sich schufen, das ihren Ruf beeinflusste. Was die Einbindung bestimmter Gegenstände oder die Wahl bestimmter Farbräume oder Lichtquellen bedeutete – und wie die Künstler ihr Selbstbild manipulierten. Das heutige Selfie tut nichts anderes. Dank Social Media sind nun viel mehr von uns Menschen, die sich öffentlich präsentieren und darstellen müssen, und das Selfie ist unser Weg, ein Bild von uns zu Zeichnen, das andere von uns haben sollen.
Und das bringt mich wieder zurück zu mir. Ich gucke mir derzeit öfter alte Selfies an und frage mich, wer die junge Frau, die ich dort sehe, eigentlich ist. War sie da wirklich glücklich, hat sie sich wohl gefühlt, woran arbeitete sie gerade, was guckte sie auf Netflix, und vor allem: Was versuchte sie auf dem Bild zu sein? Zeigte das Bild das wirklich? Wieso habe ich diesen Filter, diese Farben, diese Belichtung und diese Pose gewählt? Ich nutze meine unbewussten kreativen Entscheidungen für eine bewusst zeitversetzte kritische Selbstanalyse. Mit meinen jüngsten äußerlichen Veränderungen und dem zunehmenden Gefühl, dass mein Äußeres endlich mehr meinem Inneren entspricht, wächst auch mein Mut, mehr vom Inneren äußerlich zu repräsentieren – und das gilt auch für meine Selfies.
Jeder braucht Vorbilder, und ich bin mir immer sicherer, dass Marie Meimberg eines meiner künstlerischen Vorbilder ist. Ihre Texte sind wundervoll unverschwurbelt und ehrlich. Ihre Selbstporträts geben mir den Mut, selbst auch mehr zu probieren und zu experimentieren auf der Suche nach etwas mehr Ahnung davon, wer ich bin und was mir wichtig ist. So wie meine Haare und meine Brille und mein Tattoo gehören meine Selfies zu mir, weil ich daran irre Spaß habe. Gerade habe ich eine ausgesprochen erfolgreiche Selfie-Session hinter mir und kann mich gar nicht entscheiden, was ich bei Instagram hochladen möchte. Vielleicht nehme ich einfach mehrere. Denn: I don’t give a rat’s ass, mache jetzt meine eigenen Experimente und schaue, wo es mich dabei trägt. Außerdem lade ich diesen Text jetzt außerhalb meiner „Schedule“ hoch. Danke Marie, für die Inspiration.