Alles um Maja herum bleibt stehen. Und zwar mit diesem typischen coolen filmischen Effekt, mit dem es so aussieht, als würde einer nach und nach das Tempo aus der Welt nehmen. Das sieht dann so aus, wie es sich anfühlt, in einem Auto zu sitzen und stark zu bremsen. Sie wankt mit dem Oberkörper etwas nach vorne. Trägheit der Masse und so, meint sie sich aus dem Physikunterricht zu erinnern, aber wie merkwürdig das jetzt ist – es hat doch alles andere gebremst, und nicht sie selbst?
Ihre Gedanken rasen immer noch so wie vor einer Sekunde noch. Sie zwingt sich dazu, langsamer zu denken.
„OK.“
Sie versucht die Situation zu akzeptieren, wie sie ist. Wenn gerade wirklich die Zeit stehen geblieben ist, dann kann sie sich endlich mal in Ruhe um all ihre Sachen kümmern. Kein Stress mehr.
Maja geht los und schlängelt sich durch die Leute an der S-Bahn-Station, auf der sie eben noch über die verspätete Bahn geflucht hat. So viele Menschen. Und alles steht still.
Sie hält vor einer Frau an, die gerade verschmitzt auf ihr Smartphone schmunzelt, und guckt ihr ins Gesicht. Die Frau ist ungefähr so alt wie Maja, hat dunkle, lange Haare und einen perfekten Lidstrich. „Wie zufrieden sie aussieht.“ Maja versucht zu lesen, was auf dem Display steht.
„Du bist die schönste und schlauste Frau der Welt! Ich liebe dich so sehr meine Süße!! :-*“
Maja muss auch lächeln. Ein Kompliment für seine Schlauheit zu bekommen ist wirklich klasse. Sie kann die Frau verstehen. Maja hätte sich auch gefreut, so eine Nachricht zu bekommen.
Plötzlich vergeht ihr Interesse an den anderen Menschen in der Station. Sie setzt sich auf die Bahnsteigkante, das wollte sie immer schon mal tun. Dann legt sie sich mit dem Oberkörper auf den Boden, starrt die Rohre an der Decke an und lässt die Beine baumeln. Wenn die Zeit still steht, führen dann eigentlich die S-Bahn-Schienen noch Strom? Es ist mitten am Tag und es brennt nirgends Licht, sodass Maja nicht nachsehen kann, ob der Strom noch funktioniert.
Was passiert hier?
In dem Moment, in dem alles stehen blieb, hatte Maja gerade das Gefühl, dass ihr Kopf und ihr Herz explodieren. Es war alles so viel zu viel. Ein Leben im Turbo, und das bereits seit, ja, seit wann eigentlich? Seit Monaten, Jahren? Überstunden bei der Arbeit, morgens früh hin und abends spät heim, eigentlich nur zum Schlafen. Vor einer ganzen Weile schon ist ihr Freund ausgezogen. Sie kann sich nicht mehr entsinnen, wie lange das schon her ist. Sie kann sich nicht einmal daran erinnern, was sie letztes Wochenende getan hat. Sie hat ihre Mutter im Krankenhaus besucht – oder war das an dem Samstag davor?
Maja schließt die Augen. Der Wind streift ihr kühl über ihr Gesicht, sie spürt die kalten, harten Betonplatten am Rücken. Sollte man nicht eigentlich in Panik ausbrechen, wenn plötzlich die Zeit still steht? In diesem Moment genießt Maja die unvorhergesehene Pause. Wenn es keine Zeit gibt, dann kommt sie auch gerade nicht zu spät zu ihrem Termin.
Es ist vollkommen leise. Da ist nur der Wind, ein leichtes Rauschen im Hintergrund. Nicht so laut, dass es stört, aber präsent genug, dass es Maja für den Moment, für diese kleine Ewigkeit, vom Denken ablenkt.
Nachwort
Der geneigte Leser weiß, dass einer meiner langfristigen Lebensträume ist, ein Buch zu schreiben. Da von nichts nichts kommt, versuche ich mal, eine kleine Reihe an fiktionalen Geschichtchen auf meinem Blog unterzubringen, zu finden unter ‚fionas fickle fictions‘.